Mit dem folgenden Artikel habe ich lange gewartet. Doch ich musste ihn schreiben, denn es geht um ein Problem, das es meiner Meinung nach mit politischem Aktivismus gibt, der identitätspolitisch bestimmt ist.
Das Problem ist, dass ich, würde ich an Identitätspolitik glauben, als weißer, verheirateter Cis-Mann nicht das Recht hätte, über ein Thema zu schreiben, das nicht auch weißem, verheiratete Cis-Männer betrifft. Das Thema, um das es geht, behandelt Sprache, genauer einen Begriff aus der deutschen Sprache und es geht um Ideengeschichte. So gesehen betrifft mich das Thema als Germanist und Historiker durchaus. Anderseits geht es um Rassismus, daher bin ich so gar nicht sprechfähig. Obwohl ich der Vater eines Kindes bin, das eine schwarze Mutter hat. Also darf ich doch etwas sagen, denn ich muss meinen Sohn ja sensibilisieren, oder? Um mich ganz abzusichern, habe ich mal geschaut, was genau struktureller Rassismus sein soll und dabei gelernt, dass auch diejenigen, die diesen ausüben, von ihm betroffen sind und so meine Interpretation, darf ich auch etwas dazu schreiben, ja ich darf es sogar wagen, einen Schwarzen Autoren zu kritisieren, wenn er einen Text veröffentlicht, der voller Fehler ist. (Das großgeschriebene „S“ ist übrigens Absicht und kein Fehler. Unter Identitätspolitikern wird „Schwarz“ dann großgeschrieben, wenn es die selbstgewählte politische Bezeichnung signalisieren soll.)
Worum aber geht es? Dieser Text ist eine Reaktion auf einen Artikel, auf den ich mich sehr gefreut habe, denn ich erhoffte mir Erkenntnis und Argument zu einem Thema, das mich sehr interessiert. Der Artikel erschien am 8. September 2020 in der Lokalausgabe der Westdeutschen Zeitung für Wuppertal. Geschrieben wurde er von Muyisa Muhindo, seines Zeichens Polikwissenschaftler und Mitglied der Partei „Power of Color“, die im Wuppertaler Integrationsrat vertreten ist. Außerdem ist er politischer Aktivist im Verein kiTma.
Sein Artikel war Teil der Reihe „Realitäten“, in der Menschen mit Migrationshintergrund über ihre Erfahrungen mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit berichteten. Sein Beitrag sticht dabei heraus, weil er sich weniger auf eigene Erfahrungen beruft als auf Recherche zu dem Begriff „Mohr“. Anlass dafür ist die Existenz einer Mohrenstraße in Wuppertal-Heckinghausen, für deren Umbenennung er plädiert. Diesen Artikel und vor allem die Argumentation für die Umbenennung möchte ich gerne kritisch untersuchen.
Muhindo beginnt seinen Artikel mit einer Einordnung der damaligen Situation bezüglich des Namens der Straße und zeigt die drei Seiten, die seiner Meinung nach aus Menschen bestehen, die den Namen unerträglich finden, denjenigen, denen es egal ist, und denjenigen, die von den Aktivisten genervt seien. Dass es außerdem eine Gruppe von Menschen gibt, zu denen ich mich zähle, die eine faktenbasierte, wissenschaftliche und ergebnisoffene Diskussion wollen, unterschlägt er. Das liegt vielleicht auch daran, dass das Wort, um das es geht, für ihn bereits so negativ belegt und aher für Betroffene so verletzende ist, dass er es gar nicht mehr nennen möchte und stattdessen von M* statt von Mohren spricht.
Damit geht er im dritten Absatz des Artikels zu seiner eigenen Geschichte mit dem strittigen Begriff über, die aber eher marginal sei, im Gegensatz zum Wort „Neger“, gegen das er lange ankämpfen musste, etwa bei Mitschülern oder einer Lehrerin. Interessant ist, dass er erzählt als Kind das Wort „Mohr“ besser als das Wort „Neger“ gefunden zu haben, so dass er es als Alternative nutze. Doch er räumt ein, heute klinge dies absurd.
Dann endlich kommt die Argumentation, auf die ich gewartet hatte. Er beginnt mit der Etymologie des Wortes, also der Wortgeschichte. Ganz richtig weist er daraufhin, dass das Wort aus dem Lateinisch kommt, doch seine Übersetzung von „maurus“ ist nicht korrekt. Das Wort bedeutet nicht schwarz, sondern Mauretanien. Seine Wortherkunft im Lateinischen ist nicht klar, doch es gibt Hinweise darauf, dass das Wort eine latinisierte Version einer Eigenbezeichnung eines Berbervolkes ist.
Muhindo schreibt dann weiter:
„Ab dem 16. Jahrhundert etablierte er sich als verallgemeinernde Fremdbezeichnung von weißen für „schwarze“ Menschen. Das 16. Jahrhundert? Da war doch was?! Richtig! Das war das Zeitalter, Grundlage zur Pseudowissenschaften eine Rassentheorie geleert wurde, sagte, „die Menschheit sei in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen“. Schwarze hätten hingegen „von der Natur kein Gefühl, welches welches über das Läppische stiege“. Dieses Zitat stammt übrigens von dem hochgelobten Philosophen und Verfechter der Aufklärung Immanuel Kant. Der Begriff M* ist also unmittelbar verwoben mit stereotypen Denkmustern, die schwarze gegenüber weißen Menschen als kindlich bis hin zu minderwertig darstellen.“
Ich muss an dieser Stelle, den gesamten Absatz im Original zitieren, denn nur dann kann die ganze Argumentation klargemacht werden. Schon der erste Satz ist falsch. Das Wort Mohr ist aufgrund seines lateinischen Ursprungs das gesamte Mittelalter hindurch für Schwarze benutzt worden und hat sich nicht erst im 16. Jahrhundert etabliert. Da es sich eventuell um eine berberische Eigenbezeichnung handelt, ist es auch nur bedingt eine Fremdbezeichnung. Was das genau sein soll ist eh fragwürdig. Das Wort „Deutsch“ ist auch eine aus dem Lateinischen abgeleitete Fremdbezeichnung, die Englisch gar nur für die Niederländer gilt. Und warum ein Norddeutscher sich mit der französischen Bezeichnung für Deutsch zufriedengeben soll, ist mir ein Rätsel, denn mit Alemannen hat der sich nichts zu tun. Eine Fremdbezeichnung ist also per se nichts Schlechtes, denn die Bezeichneten können sich damit ja durchaus identifizieren.
Dann kommt der nächste Fehler. Muhindo erklärt, dass im 16. Jahrhundert die pseudowissenschaftliche Grundlage für die Rassenlehre gelegt wurde. Auch das ist falsch. Die wissenschaftliche Revolution begann erst im 17. Jahrhundert, die Rassenlehre als Wissenschaft wird im 18. Jahrhundert entwickelt. Das ist das Jahrhundert, in dem Immanuel Kant lebte, als gute 200 Jahre später.
Überhaupt: Immanuel Kant. Dass der Königsberger Professor in seinen Vorlesungen rassistische Stereotype bediente, ist keine Neuigkeit, wenn diese Sicht auf einen der Väter der Aufklärung auch der breiten Öffentlichkeit neu sein dürfte. Aber schauen wir uns doch mal das Zitat genau an. Denn es geht ja immer noch darum, zu erklären, warum das Wort „Mohr“ rassistisch ist, nicht, darum, Kant als Rassisten zu entlarven.
Kant schreibt:
„In den heißen Ländern reift der Mensch in allen Stücken früher, erreicht aber nicht die Vollkommenheit der temperirten Zonen. Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften.“
Das Wort „Mohr“ ist in diesem Absatz gar nicht benutzt worden. Das kommt erst einen Absatz weiter:
„Die Mohren und andere Völker zwischen den Wendekreisen können gemeiniglich erstaunend laufen. Sie sowohl als andere Wilde haben auch mehr Stärke als andere civilisirte Völker, welches von der freien Bewegung, die man ihnen in der Kindheit verstattet, herrührt. Die Hottentotten können mit bloßen Augen ein Schiff in eben einer so großen Entfernung wahrnehmen, als es der Europäer mit dem Fernglase vermag.“
Der Philosoph scheint hier zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu unterscheiden und in der Tat, ein paar Seiten vorher hat er diese Differenzierung ausformuliert:
„In Afrika nennt man Mohren solche Braune, die von den Mauren abstammen. Die eigentlich Schwarzen aber sind Neger. Diese erwähnten Mohren erstrecken sich längst der berberischen Küste bis zum Senegal. Dagegen sind von da aus bis zum Gambia die schwärzesten Mohren, aber auch die schönsten von der Welt, vornehmlich die Jolofs. Die Fulier sind schwarzbraun. An der Goldküste sind sie nicht so schwarz und haben sehr dicke Wurstlippen. Die von Kongo und Angola bis Cap Negro sind es etwas weniger. Die Hottentotten sind nur schwarzbraun, doch haben sie sonst eine ziemlich mohrische Gestalt. Auf der andern Seite, nämlich der östlichen, sind die Kaffern keine wahren Neger, ingleichen die Abessinier.“
Es muss hier nicht klar gemacht werden, dass diese Differenzierung immer noch rassistisch ist. Das steht außer Frage, aber klar ist auch, dass eine Fülle an Begriffen aus allen möglichen Sprachen benutzt werden, um diese Differenzierung nach Hautfarben vornehmen zu können. Worte werden also zur Beschreibung genutzt. Diese Beschreibungen sind rassistisch, also sind auch die genutzten Worte rassistisch. Das ist die Argumentation, die Muhindo anführt, wenn er zu seinem Schluss der unmittelbaren verwobenen stereotypen Denkmuster kommt. Wenn er damit recht hat, müssten in extremo alle von Kant in diesem Zusammenhang genutzten Worte auf den Prüfstand, inklusive der Pronomen, Adverbien und Präpositionen, die auch unmittelbar mit dem Rassismusdiskurs verbunden sind, denn ohne sie gebe es diesen Diskurs nicht.
Aber selbst, wenn es nur um die Worte gehen soll, die ganz direkten Bezug zu Rassismus nehmen, müsste definitiv über die Bezeichnung „Schwarz“ nachgedacht werden, die ohne Zweifel in diesem Diskurs eine gewichtige Rolle spielt, wie das Beispiel Kant zeigt. Also bitte in Zukunft „S*“?
Muhindo geht weiter. Nun geht es zur Heckinghauser Mohrenstraßem doch hier verlässt ihn die Argumentation. Die Herkunft des Namens lässt sich nicht eindeutig klären, womit der Autor recht hat. Ihm „persönlich ist das aber auch zweitrangig. Viel wichtiger ist es, sich bewusst zu machen, dass wir im Wuppertal im Jahre 2020 noch immer einen Straßennamen haben, der Betroffene gegenüber erniedrigend und rassistisch ist.“
Das Wort „Mohr“ ist böse, also ist die Straßenbezeichnung auch böse! So einfach ist es. Zwar kann der Autor nicht nachweisen, dass das Wort selbst böse ist, zumindest nicht mehr als andere Worte aus dem Rassendiskurs, aber die Umbenennung ist nötig, damit seine „Tochter, die hier in Wuppertal geboren wurde, sich eines Tages ungleichwertig in der eigenen Heimat fühlen könnte.“
Mit diesem an die Gefühle der Eltern appellierenden „Argument“ schließt der Autor seine Argumentation. Es folgt noch der Hinweis, dass bei einer Umbenennung auf die Kolonialgeschichte hingewiesen werden sollte, die ein „totgeschwiegenes Kapitel“ sei. Die Geschichtsbücher der 9. Klasse sprechen recht offen über dieses Kapitel, das auch in der Oberstufe behandelt wird. Aber nun ja …